Der Weg vom Plattendschungel in ein historisches Dorf
Stell dir vor, du läufst durch ein Dorf: Kirche mit großem Platz, Mühle, gepflasterte Straßen, historische Laternen, idyllische Atmosphäre, Plattenbauten im Hintergrund. Plattenbauten im Hintergrund? So ist es. Zumindest in Alt-Marzahn. Der Rest von Marzahn ist nicht für historische Dorfkerne bekannt, sondern für eine riesige Großwohnsiedlung, bestehend aus DDR-Plattenbauten. Das soll Gerüchten zufolge ein reinster Betondschungel sein, das Paradebeispiel für Vorort-Tristesse. Gärten der Welt? Ja, doch, gern, aber der Rest? Muss das sein?
Ich war da und kann dir sagen: Ja. Muss. Komm mit, ich zeige es dir!
Rooting for the Underdog: Mein Bericht aus dem Plattendschungel mit Überraschungskern
Wenn ich am S-Bahnhof Springpfuhl aussteige, sehe ich gleich megahohe Plattenbauten. Also, so richtig große. Ich sehe mich auf dem Helene-Weigel-Platz um, der neben den Gebäuden ist. Dann mache ich mich neugierig auf den Weg. Auf den weiten Weg, denn Marzahn ist groß und weitläufig. Wenn man im Sommer unterwegs ist, wie ich in diesem Artikel, ist es auch sehr grün.
Die ärgsten Vorurteile scheinen Geschichte zu sein
Zumindest rein vom Aussehen her. Zuerst mal: Grau kannste knicken! Viele Häuser sind bunt, die Fassaden und Eingänge unterschiedlich gestaltet. Und der Behauptung mit der Betonwüste kann ich auch getrost widersprechen. Wie auch im Salvador-Allende-Viertel haben die Häuser große Innenhöfe, die begrünt sind und in denen Spielplätze und Sportkäfige großzügig Platz haben. Zwischen den Wohnblöcken befinden sich weite Wiesen und Parkanlagen.
Im Sommer sind die meisten Bäume zwischen den Gebäuden grün, aber einige tragen rotes Laub und Blutpflaumen. Das wissen auch die Anwohner, denn für mich etwas kurz geratene Stadtkönigin ist in erreichbarer Höhe nicht mehr viel zu holen. Marzahn ist groß. So groß, dass es in einen Artikel auf diesem Blog nicht rein passt. Ich kann loslaufen und werde in absehbarer Zeit nicht umkehren müssen, etwa weil ich am Ende der Siedlung angelangt bin. Man hat Platz hier draußen und ich genügend Auslauf. Dieser Bericht erzählt vom Sommer in der Plattenbausiedlung, also holen wir uns doch im Getränkemarkt eine kühle Brause, bevor wir weitergehen.
Der Punkt, an dem ich meinen Augen nicht mehr traute
Plötzlich komme ich aus der Plattenbaulandschaft an eine unscheinbare Straße. Die Häuser sind kleiner und mit Ziegeldächern obendrauf. So Häuser eben. Was aber haben die denn auf einmal hier zu suchen? Hat hier jemand Einfamilienhäuser reingesetzt und verklinkert, um sie auf alt zu machen? Ich laufe das Sträßchen weiter entlang und stelle fest: Das sind keine Klinker, sondern viel eher saubere Backsteine! Als ich um die Ecke biege, wird es so richtig skurril.
Da ist ja ein altes Dorf!
Ein kleines Dörfchen, ringsum von Hochhäusern umsäumt, dass es so wirkt wie eine absichtliche Kulisse! Vielleicht eine Art Vorzeigedorf, ein Versuch, hier in Marzahn ganz laut zu schreien: Ey, wir können auch anders als Platte? Eigentlich können sie das sonst auch, denn in Marzahn gibt es auch moderne Einfamilienhaussiedlungen. Das hier ist etwas ganz anderes.
Ich bin zunächst von dem Bruch fasziniert, der sich optisch ergibt. Die historische Straße mündet direkt in die Allee der Kosmonauten. Vor mir: mehrspurige Riesenallee mit Straßenbahn, umzingelt von Hochhäusern und REWE. Hinter mir: Alt-Marzahn, ein märkisches Angerdorf in seiner ganzen Pracht.
Die zentrale Straße, die einfach nur Alt-Marzahn heißt, ist ungefähr einen Kilometer lang. Ungläubig, jedoch mit wachsender Begeisterung um mich herblickend erkunde ich den historischen Dorfkern. Schaue ich nach vorn und hinten, sehe ich Hochhäuser am Horizont. Schaue ich zur Seite, türmen sich hinter den alten Häusern riesige Plattenbauten auf. Erst dann kommen die Wolken. Relativ schnell gelange ich an das andere Ende der Straße Alt-Marzahn. Da geht es abrupt in die Landsberger Allee über.
Das soll mir jetzt bitte mal jemand erklären!
… denke ich mir und gehe zurück in den Dorfkern. Er ist mitnichten eine Kulisse, sondern belebt. Die Häuser haben Gärten und die Bewohner bieten ihre Ernte für einen Obolus feil, den man im Briefkasten entrichten möge. Ich kaufe mir einen Prügel von Zucchini und gehe auf einer Seitenstraße zur Mühle. Ja, gibt es hier auch. Exponiert steht die Mühle auf einem kleinen Hügel und bietet den großen Plattenbauten in einiger Entfernung tapfer die Stirn. Ihr Inneres bleibt mir heute verborgen, das von Rosen umrankte Tor zu Hügel und Mühle verschlossen.
Ich recherchiere später im Internet: Für Führungen, Schulklassen und Sonderveranstaltungen ist sie zugänglich und buchbar. Nun, Mühle, wir sehen uns wieder! Wenn es mal irgendwann keine Wellen und Inzidenzen mehr gibt. Hier kannst du dich weiter über die Bockwindmühle in Alt-Marzahn informieren.
Auch ohne Mühlenrundgang werde ich auf meinem Ausflug von Alt-Marzahn verwöhnt, was den historischen Wissensdurst angeht: Es gibt ein Museum, zweiteilig sogar, in dem man sich über die Siedlungsgeschichte des Berliner Bezirks Marzahn-Hellersdorf informieren kann. Hier erfahre ich alles über die historischen Bauten in Alt-Marzahn, genauso wie über die eigentlich ebenfalls historischen Plattenbauten drumherum. Ausführlich, mit Modellen.
Fotos kann ich dir nicht zeigen, denn die darf man da nicht machen. Aber selbst hingehen ist eh viel besser. Zum Bezirksmuseum Marzahn-Hellersdorf geht es hier lang.
Irgendwann verlasse ich Alt-Marzahn wieder, um mir weitere Plattenbauten anzuschauen und mich wieder in der riesigen Siedlung zu verlieren.
Überall war Schlamm, als die Plattenbausiedlung gebaut wurde
Die Großwohnsiedlung Marzahn war Teil des 1971 gefassten Vorhabens der DDR-Regierung, bis 1990 das Problem der Wohnungsnot zu lösen, das dem 2. Weltkrieg folgte. Das Besondere war, dass die Bewohner erster Stunde beim Bau mithalfen. Dafür bekamen sie eine Wohnung mit Bad, Fernwärmeheizung und Warmwasser zugesichert, was damals neu war. Im Altbau war es noch üblich, dass mit Kohle geheizt wurde, Wasser musste man sich selbst warm machen und meist hatte man eine Außentoilette.
1973 begann man mit dem Bau der neuen Großsiedlung, die eine Zeit lang die größte Europas war. Dieses riesige Vorhaben wollte man auf alten Rieselfeldern verwirklichen. Man erschloss das Gebiet also und fand bei archäologischen Ausgrabungen noch einige Stücke aus früheren Zeiten, die heute im Bezirksmuseum ausgestellt werden. Auch die großen Straßen wie die Allee der Kosmonauten und die S-Bahn wurden komplett neu gebaut. Eine Bewohnerin der ersten Stunde berichtet in einem Bericht beim Deutschlandfunk davon, dass es während der Bauphase bei entsprechendem Wetter eine schlammige Angelegenheit war, hier zu wohnen.
Bist auch du bereit, dich in den Underdog zu verlieben?
Der Plattenbausiedlung in Marzahn hängt immer noch das Image an, ein graues, tristes Problemviertel zu sein. Ich wage allerdings zu behaupten, dass man das nur sagt, wenn man es sich nicht angesehen hat. Es ist ein bisschen weit draußen, das stimmt. Deswegen kommt man nicht unbedingt dort vorbei, wenn man selbst nicht in der Nähe wohnt. Man muss es schon besuchen gehen. Aber das ist ja oft so bei Großwohnsiedlungen. Und es lohnt sich.
Hier endet der erste Teil unserer Marzahn-Reise. Es geht noch weiter. Aber beim nächsten Mal sehen wir uns erst mal die Thermometersiedlung an, die sich so ziemlich anderen Ende der Stadt befindet.